Anfang Oktober wurde das lange erwartete Demokratiepaket für die Türkei verabschiedet, und als wir das morgens um 10 live im türkischen TV verfolgten, schwante mir schon „Oje – da wird es wieder nur ein Thema geben in den deutschen Medien“… und siehe da „Eilmeldung: Türkei erlaubt Kopftuch im Staatsdienst“ durfte man nur kurz darauf in führenden deutschen Onlinemedien lesen. Der Beißreflex funktionierte wieder einmal wunderbar, etwas wichtigeres als die Aufhebung des Kopftuchverbots schien das Paket nicht zu enthalten, dieser Eindruck wurde erweckt. Dass dabei die Aufhebung eines Verbots als Einführung eines neuen Zwangs dargestellt wurde, ist dann nur noch je nach Medium eine mehr oder weniger elegante Volte.
Viel besser sah es allerdings in vielen türkischen Medien auch nicht aus, nur interessierte hier keinen das Kopftuch, sondern der „Skandal“ war die Zulassung der Buchstaben X, W und Q, sowie die Erlaubnis, dass in Privatschulen künftig nicht mehr zwingend türkisch als Hauptunterrichtssprache gelten muss. Und – riesen Aufregung – dass die Schulkinder nicht mehr jeden Morgen das „Andımız“ „unseren Eid“ aufsagen mussten. Jeden Morgen sagten die Kinder diesen Spruch auf:
„Ich bin Türke, ich bin ehrlich, ich bin fleissig.Mein Prinzip:
die Kleinen zu schützen,
die Großen zu respektieren,
meine Heimat, meinen Staat sehr zu lieben
Mein Land zu fördern und zu schützen
Hey, großer Atatürk!
Ich schwöre, den Weg, den Du uns geöffnet hast, die Hoffnung, die Du uns gezeigt hast, ohne Pause zu verfolgen.
Ich widme mein Leben der Türkei
Wie glücklich ist der, der sich Türke nennen darf!“
Dieser Eid fällt ab sofort weg und die Aufregung ist groß. Zumindest bei den Eltern. Die Kinder sehen das pragmatisch. Eine spontane Blitzumfrage unter den Kumpeln meines Sohnes (5. Klasse) ergab größtenteils diese Antworten: „Find ich gut – da brauchen wir nicht mehr so lang in der Kälte oder Hitze zu stehen.“ „Nee, ich find´s blöd, wenn wir gleich in die Klasse gehen müssen, merken die Lehrer, wenn wir zu spät kommen“… für die Kinder ist der Inhalt des Eids völlig irrelevant, ihre Welt sieht anders aus.
Es gab auch differenzierte Stimmen zu dem Paket: den einen ging es viel zu weit (meist den nationalistischen Strömungen im Land) den anderen galt es als Augenwischerei (den Minderheiten und viele interessierten Ausländern) – dabei haben insbesondere die letzteren einfach übersehen, dass eine weitergehende Regelung zum jetzigen Zeitpunkt eine zu große Belastungsprobe wäre, insbesondere wenn das umfangreiche Reformpaket beim Wahlsystem, z.B. der von der Militärregierung in den Achtzigern eingeführten 10%-Hürde im Parlament, umgesetzt wird und die hohen Hürden bei einer Parteigründung beseitigt werden.
Aus westlicher Sicht sind das alles sicherlich viel zu wenig, zu langsam, zu zögerlich. Dass dem Kloster Mor Gabriel nach jahrzehntelangem Rechtstreitigkeiten das Land mit einem Federstrich zurückgegeben wird, reicht nicht aus: gleich werden andere Objekte aufgeführt, die nicht im „Paket“ genannt wurden. Insgesamt sind nach Regierungsaussagen bislang 250 dieser strittigen Liegenschaften an die früheren christlichen Eigner zurückgegeben worden, darunter eben das symbolträchtige Mor Gabriel, eines der ältesten christlichen Klöster der Welt.
Man kann gegen die aktuelle Regierung vieles vorbringen, aber leicht ist es nicht, die unzähligen verschiedenen Interessen innerhalb der Türkei unter einen Hut zu bringen – die türkische Gesellschaft ist weitaus tiefer gespalten, als man das aus westlichen Ländern kennt. Man kann es derzeit eigentlich keiner Gruppe recht machen, ohne der anderen auf die Füße zu treten. Was den Minderheitenvertretern noch lange nicht weit genug geht, ist für die Nationalisten schon hart am Vaterlandsverrat.
Von all dem liest man leider nur sehr wenig in der deutschen Presse – da titelt man lieber „Erdogan hebt Kopftuchverbot auf“…
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